Im Ausland fragen mich viele Freunde, warum die Deutschen vermeintlich noch immer so sensibel auf die NS-Zeit reagieren. Die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges liegen schließlich mittlerweile über 70 Jahre zurück. Ich erkläre normalerweise, dass es meiner Meinung nach mit der Schulbildung zu tun hat, in der ein kollektives Schuld- bzw. Schamgefühl für die dunklen Abgründe eines Volkes und der nationalen Psychologie entwickelt wird. Wir lasen das Tagebuch der Anne Frank, Die Welle, Der gelbe Vogel, Damals war es Friedrich und Die Blechtrommel. Wir hatten die Möglichkeit mit jüdischen KZ-Überlebenden zu sprechen, ich nahm an einer Exkursion nach Auschwitz teil, wir sahen Schindlers Liste im Unterricht. Nahezu jedes Jahr seit der fünften Klasse wurde die NS-Zeit im Deutsch-, Geschichts- oder Politikunterricht behandelt, die Quintessenz war: Ja, die Deutschen haben viele grausame Dinge getan, aber die allermeisten haben das Hitler-Regime gar nicht unterstützt, sie waren Mitläufer, maximal vielleicht Nutznießer.
Was in Deutschland gerade allerdings passiert, lässt mich an dieser Version der Bewertung der kollektiven Schuld zweifeln. Waren wirklich alle nur „Mitläufer aus Angst“? Ich rede gerade nicht vom durchschnittlichen „besorgten Bürger“, der befürchtet, dass die Flüchtlingsbewegung nicht gestemmt werden kann. Viele Bedenken sind berechtigt – in kurzer Zeit eine große Menge traumatisierter Menschen aus einem anderen Kulturkreis zu verwalten und zu integrieren ist tatsächlich eine schwierige Aufgabe, die nicht reibungslos laufen kann. Und nein, natürlich ist nicht jeder ein Nazi, der gewisse Ängste in sich trägt. Was mich stutzig macht sind die Fälle, in denen Grenzen überschritten werden, die NS-Zeit idealisiert und Sozialdarwinismus propagiert wird.
In den letzten Monaten gab es Fälle, in denen auf Kinder uriniert wurde, kürzlich wurden Flüchtlinge, die nicht einmal zehn Jahre alt waren, mit Messern bedroht. In Dresden wurden am Tag der Deutschen Einheit NSDAP-Flaggen geschwenkt, Neonazis versuchten die Polizeiwache in Magdeburg zu stürmen um einen befreundeten Insassen zu befreien, ein Mann spielte eine Hitler-Rede vor der KZ-Gedenkstätte in Buchenwald ab und Morddrohungen gegen Politiker häufen sich. Nicht nur in Deutschland ist dieses Gewaltpotenzial gewachsen – der österreichische Präsidentschaftskandidat Alexander Van der Bellen (Die Grünen) erhält inzwischen Personenschutz aufgrund expliziter Morddrohungen gegen ihn. Von den Rissen in Familien und Freundeskreisen ganz zu schweigen. Hier nur ein Fall, den ich auf meiner Timeline gesehen habe:
Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt. Keine einzige. Solche Fälle zeigen, dass die bürgerlichen, „typisch deutschen“ Tugenden des Anstands erodieren. Mittlerweile ist kaum noch jemand empört, wenn es wieder einen vergleichbaren „Zwischenfall“ gibt, man entwickelt sogar Verständnis für diejenigen, die von Angst getrieben sind, anstatt mit radikalem Demokratiebewusstsein zu reagieren und die Säulen unseres Rechtsstaats zu schützen. Was noch viel perfider ist, ist der deterministische Sozialdarwinismus, den der Journalist Roland Tichy auf seinem Onlineportal regelmäßig dokumentiert. Er prangert die „Lügenpresse“ an und beschwert sich darüber, dass es keine konservativen und skeptischen Echokammern gibt, ohne zu reflektieren, dass er selbst so eine Plattform bietet. Er akzeptiert die Kalkulationen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung nicht und gibt sich somit vollkommen dem postfaktischen Strom hin – sachliche Tatsachen werden ignoriert, seine Wahrnehmung zählt und spricht abfällig über „Merkel-Flüchtlinge“:
Es mögen trotzdem wunderbare Menschen sein, die kommen, großartige Ärzte darunter, zukünftige Künstler, vielleicht sogar der eine oder andere Nobelpreisträger. Ein Geschäft für Deutschland sind sie nicht, wie die neuen Zyniker der Migrationsindustrie weismachen wollen, die dabei auch – oder mehr – an ihre eigenen Geschäfte denken. Die allermeisten werden in einem der neuen migrantischen Armenviertel stecken bleiben, zwischen den Wasserpfeifen-Cafés und den Telefonläden, die dort sind, weil die Sehnsucht groß und das Leben in der Parallelgesellschaft frustrierend ist.
Dieser Absatz fasst die Logik des sozialdarwinistischen Determinismus zusammen. Tichy sieht keine Chance für Erfolgsgeschichten für Flüchtlinge aufgrund ihrer Herkunft und der prekären finanziellen Situation. Ihm ist der menschliche Wert egal – er sieht alle als zum Scheitern verdammt. Das Potenzial von Kindern, die Wünsche und Bemühungen um Aufstieg werden als unmöglich, hoffnungslos, gar belanglos abgetan. Wer sich diesem Gedanken anschließt, eröffnet den Weg zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Aufstiegschancen sind auch eine Frage des Willens und der Anstrengung.
Tichy beendet den Artikel mit dem toxischen Satz, dass das Land innerhalb eines Jahres für diejenigen fremd geworden sei, die hier schon immer leben. Mein Eindruck ist, dass sich offenbar für viele Leute erst jetzt der Schleier ihrer Wahrnehmung hebt. Tichy ist nicht rechtsextrem oder ähnliches, aber er unterschätzt den Effekt seiner Worte. Deutschland verändert sich, ja. Für mich allerdings in anderer Form: vor fünf Jahren hätte ich mir so viele rechtsradikale Angriffe nicht vorstellen können. Viele grundlegende Veränderungen, die allerdings von Skeptikern angeprangert werden, sind jedoch nicht neu und haben sich sukzessiv entwickelt – unser modernes Verständnis von sozialem Liberalismus zum Beispiel, das jetzt gerne als Angriffspunkt für die „linksgrün versifften Gutmenschen“ benutzt wird. An dieser Stelle schließt sich der Kreis: Bürger verabscheuen mittlerweile ihre Mitbürger und suchen ihre eigenen – zum Teil aggressiven – Resonanzräume, in denen über Mord und Vergewaltigung vom Politikern schwadroniert wird.
Man muss sich jetzt überlegen, dass Deutschland wirtschaftlich relativ stabil ist – kein Vergleich zum Zustand vor der Machtergreifung durch die Nazis. Dennoch entwickelt sich ein Spektrum – so klein es auch sein mag – von Bürgern, das wirklich daran glaubt, dass Gaskammern eine gute Idee waren und andere Kulturen minderwertig und unterlegen sind. Anstatt dies als Form des Mitlaufens oder Ventil der Angst abzutun, muss man genau hinschauen – auch wenn es weh tut: Ja, es gibt Menschen, die wirklich von Gewalt und nationalsozialistischen Parolen überzeugt sind. Es heißt schließlich „Wehret den Anfängen!“ und nicht „Redet die Anfänge klein!“ Nur diese Form der Bewertung eröffnet neue Möglichkeiten des Umgangs mit antidemokratischem und xenophobem Verhalten. Möglicherweise heißt dies auch, dass sich rückblickend doch mehr Menschen an der Vergangenheit schuldig gemacht haben. Daraus lernen wir nämlich, wie sich die kollektive Psychologie in einem Land schrittweise ändern kann, anstatt zu hoffen, dass sich Anstand, Besonnenheit und Geduld durchsetzen werden.
Ganz toller Beitrag – vielen Dank für diesen Beitrag, den ich auch in der Gruppe „Gegen Das Vergessen“ geteilt habe.
Eine richtig gute Leseempfehlung
LG Ede
Tausend Dank fürs Teilen 🙂 freue mich sehr über dieses Feedback!
Liebe Grüße
Alice
sehr gerne und noch ein schönes Rest Wochenende 🙂
In den letzten Monaten habe ich schon öfters darüber nachgedacht, dass es aus heutiger Sicht durchaus Sinn machte, dass wir als Schüler zu einer Auseinandersetzung mit der deutschen Nazi-Vergangenheit angeregt wurden. Paul Spiegel hat es einmal schön formuliert:
„Es kann keine Rede davon sein, dass Menschen, die während des Holocaust oder danach geboren worden sind, mit irgendeiner Schuld in Zusammenhang stehen. Aber dieser Personenkreis trägt dennoch eine Verantwortung. Nicht für die Vergangenheit und für das, was damals geschehen ist. Diese Menschen tragen Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft.“
In diesem Sinne stimme ich laut in das von Ihnen angesprochene „Wehret den Anfängen“ ein!
Ich kann hier den Zusammenhang nicht so recht erkennen. Inwiefern ändern die von dir geschilderten Übergriffe deine Einschätzung der Vergangenheit. Wir haben derzeit eine Zunahme rechter Straftaten, das ist unbestritten – doch auch linke Straftaten nehmen zu. (http://www.sueddeutsche.de/politik/kriminalitaet-so-viele-rechts-und-linksextreme-straftaten-wie-noch-nie-1.3003929) Es sind auch nicht nur linke Politiker, deren Leben bedroht ist. Journalisten und Politikern, die dem rechten Lager angehören werden ebenfalls bedroht. (https://www.welt.de/politik/deutschland/article154932402/Von-Storch-wird-nach-Morddrohungen-vom-LKA-bewacht.html, http://www.stern.de/investigativ/schwulen-sprecher-der-afd-erhaelt-morddrohungen-7066624.html)
Zur Untermauerung deiner Thesen zitierst du Beispiele, die kaum auf die Einstellung eines Großteils der Bevölkerung schließen lassen. Es sind Anekdoten, die alleine für sich selbst stehen. Ähnliche Argumentationen kenne ich bisher vermehrt von rechten Blogs, die vom Einzelfall auf die Gesamtheit schließen wollen. Eine Methode, der du in solchen Fällen sicherlich widersprechen würdest. Inwiefern helfen Grenzfälle, den Zustand einer Gesellschaft zu beschreiben? Wie viele Menschen in diesem Land glauben eigentlich, dass Gaskammern wieder eine gute Idee sind? Das letzte Mal, dass ich auf einer Demo offen den Ruf nach Gaskammern gehört habe, war das in Berlin und wurde von jungen Muslimen skandiert. (http://www.cicero.de/berliner-republik/gaza-konflikt-und-europa-der-judenhass-ist-wieder-da/57962) In Essen und weiteren Städten gab es ähnliche Ausschreitungen. (https://www.youtube.com/watch?v=LXan152eUeU)
Du räumst zwar ein, dass viele Bedenken in der Flüchtlingskrise gerechtfertigt seien, doch nennst selber keine. Stattdessen geißelst du die Kritik Tichys als perfiden Sozialdarwinismus. Welche der Bedenken hältst du denn für Gerechtfertigt, wenn nicht gerade die Frage nach den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integrationschancen. Gibt es denn Punkte, die du mit Tichy teilst? Dass, was du als Determinismus bezeichnest ist im wesentlichen der aktuelle Forschungsstand: (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arbeitsmarkt-fluechtlinge-ziehen-erst-nach-20-jahren-mit-inlaendern-gleich-14424650.html, http://doku.iab.de/aktuell/2015/aktueller_bericht_1514.pdf, http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2016/578956/IPOL_STU(2016)578956_EN.pdf)
In einem Punkt liegen wir gleich. Ich befürchte, dass mit dem wirtschaftlichen Abschwung auch die radikalen Kräfte an Macht gewinnen werden. Doch gleiches gilt auch für Flüchtlinge. Sollte die Integration scheitern, wird dies weitere Abwanderungen in Parallelgesellschaften zur Folge haben. Damit werden sowohl die sozialen und gesellschaftlichen Konflikte wachsen. Wohin dies führen kann zeigt ein Essay der Friedrich Ebert Stiftung: (http://library.fes.de/pdf-files/bueros/london/03686.pdf)
Hallo und danke für den Kommentar.
Meine Hauptaussage ist im Kern, dass die Bewertung von rechtsradikaler Gewalt nicht mehr als Mitläufer-Bewegung oder angstgetrieben dargestellt werden soll. Es ist nicht förderlich, Probleme klein zu reden und die Schuld und die explizite Gewaltmotivation runterzuspielen. Das macht man in Deutschland rückblickend mit der NS-Zeit und dieses Narrativ zieht sich bis heute durch. Ich betone mehrfach, dass ich von einem kleinen Spektrum in der Bevölkerung rede und das ist mit den Einzelfällen zusammengefasst – wie gesagt: kein Massenphänomen, sondern ein sich radikalisierendes Spektrum, das aufgrund eigener Echtkammern und Dynamiken Aufschwung gefunden hat. Selbst wenn es ein kleiner Teil der Bevölkerung ist, der den Rechtsstaat durch Gewalt und Xenophobie untergräbt, sollte man keine Toleranz dafür entwickeln. Das gilt für jede Gruppierung, die selbiges tut.
Der Rechtsruck und die vielen Anschläge auf Flüchtlingsheime sind symptomatisch. Dazu folgende Leseempfehlungen:
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/das-destruktive-in-der-normalitaet
http://de.ejo-online.eu/digitales/poppers-alptraum
Den Anstieg linksextremer Gewalttaten ist nicht abzustreiten und das will ich auch nicht. Im Gegenteil. In anderen Artikeln habe ich auch darüber geschrieben und das ist genauso ein gravierendes Problem, allerdings sollte man es seperat behandeln, auch wenn es viele Parallelen gibt. Das ist in diesem Zusammenhang aber ein anderes Thema.
Was Tichy betrifft, halte ich die Sorge für Gerechtfertigt, dass sich Deutschland langfristig ändern wird in Bezug auf das Sicherheitsgefühl beispielsweise und ich kann verstehen, dass dies vielen Leuten nicht passt, aber die Resignation in seinem Text missfällt mir. Die Situation ist nun einmal so wie sie ist und anstatt sich in Sehnsucht nach der Vergangenheit zu flüchten und alles als verdammt zu betrachten, gilt es zu handeln, um die bestmöglichen Entwicklungen in Bezug auf Integration und den gesellschaftlichen Frieden zu entwickeln.
Hallo Alice,
Danke für diesen wunderbaren Artikel. Genau solche Auseinandersetzungen mit unserer Gegenwart brauchen wir dringend. Ich selbst schreibe gegen die Entwicklungen in unserem Land, die längst bei auch Freunden in der Familie anzutreffen sind, an. Cohn-Bendit, bei dem viele Schaum vor den Mund bekommen, sobald er nur spricht, hat letzte Woche in einer Talkshow gesagt, dass es letztlich bei all unseren Debatten darum gehe, ob wir bereit sind, für eine offene, freie, pluralistische Gesellschaft einzutreten bereit sind. Um nicht weniger geht es.
Ich gehe mit Tichys rechter Journalistenarmada nicht so nachsichtig und bedacht um, wie du es (dankenswerterweise) hier machst. Ich finde, Tichy macht das, kühl berechnend wie er als Wirtschaftsjournalist ist, und appelliert an die niedersten Gefühle von Menschen. Und er hat damit zweifellos Erfolg. Allerdings erkennt man gerade in diesem Blog recht gut, wie Echoräume funktionieren. Andersdenkende trifft man dort so gut wie nie. Jedenfalls finde ich diese dort kaum. Was natürlich auch daran liegen könnte, dass negative Kritik weggelöscht wird. Einige meiner Kommentare wurden jedenfalls gelöscht.
Es ist nötig, immer und immer wieder auf die konkrete Gefahr hinzuweisen, die von einem Menschenbild ausgeht, dass auch von den dort schreibenden Journalisten gezeichnet wird. Die Theorie, die Tichy in dem von dir erwähnten Fall, beschrieben hat, klingt ein bisschen zu sehr nach Sarrazin, der ja längst einer der „Schutzheiligen“ der deutschen Rechten avanciert ist, um ihm keine bösen Absichten zu unterstellen. Für mich klingt das rassistisch. Die Muslime schaffen nix, sondern kosten nur Geld. Das ist die Botschaft, die jeder heraushören kann.
Ich kann es nicht mehr hören, dass Leute ja nur verängstigt oder besorgt wären. Denen, die das von sich behaupten, sage ich, dass ich mehr Angst vor ihnen habe als vor allen Flüchtlingen und Migranten zusammen.
Krass? Ja, ich bin bei diesem Thema so etwas von unleidlich geworden, dass mir das manchmal sogar in der Familie auf die Füße fällt. Ich habe immer gern kontrovers diskutiert. Aber das geht irgendwie gar nicht mehr. Frank Stauss hat einige Gründe in seinem fantastischen Artikel beschrieben. Aber wie drehen wir an dieser Schraube, ohne die Überzeugungen zu verraten (das Gesicht zu verlieren)? https://goo.gl/DjAgjU