In Berlin lerne ich eine Reihe unterschiedlicher Leute kennen – junge Erben und Unternehmer, Hippies und Hipster, Künstler und Kreative, Einwanderer und Einheimische. Wenn ich mir die Lebenswege der Leute anschaue, fällt mir zunehmend auf, dass diejenigen, die sich finanziell, aber vor allem sozial durch ihre Familie oder ihr Umfeld abgesichert fühlen, insgesamt ruhigere, besonnenere Entscheidungen für ihren individuellen Weg treffen. Den langweiligen Job kündigen, nach dem Studium ein Jahr auf Weltreise gehen, eine risikoreiche Investition tätigen, die Selbstständigkeit planen.
Kürzlich hatte ich bereits beschrieben, welche Folgen Armut auf Denkprozesse hat, aber vielleicht ist es nicht die persönliche Armut, die den Unterschied macht, sondern die Ungewissheit, ob man Unterstützung in schwierigen Situationen hätte. Junge Menschen können mit mehr Mut experimentieren und sich auf neue Dinge einlassen, wenn sie wissen, dass sie im schlimmsten Fall immer zu ihren Eltern zurückziehen können oder von ihnen zumindest ein gewisses Maß an Unterstützung bekommen, um nicht unterzugehen. Dabei können sie selbst pleite sein, aber aus der Sicherheit der erweiterten Lebensumstände scheinen sowohl Kühnheit und Besonnenheit zugleich zu erwachsen.
Meiner Meinung nach liegt die Quelle vieler guter und sinnvoller Entscheidungen in einer gewissen Stressresistenz, die einen davor bewahrt, die Fassung zu verlieren. Es ist wie beim Panic Button Effect – bei diesem psychologischen Experiment wurden zwei Gruppen von Menschen beim Lösen von Aufgaben mit lauter, aufreibender Musik beschallt. Gruppe 1 musste die Situation schlicht aushalten, die Teilnehmer der Gruppe 2 erhielt einen „Panic Button“, den sie drücken konnten, um aus der Stresssituation flüchten zu können. Wie erwartet stiegen die Stresssymptome bei den Probanden, Blutdruck und Puls erhöhten sich – außer bei jenen, die den Panic Button hatten. Diejenigen mit dem Notfallknopf benutzten ihn nicht einmal, es genügte allerdings zu wissen, dass man aus der Situation im schlimmsten Fall ausbrechen könnte, um ruhig zu bleiben. Bei Gruppe 1 hielten die Stresssymptome weiterhin an, selbst nachdem die Musik ausgeschaltet wurde, Gruppe 2 blieb durchgehend entspannt.
Ich frage mich, ob dieser Effekt in abgeschwächter, aber langfristiger Form auch in unterschiedlichen sozialen Gruppen zu Tragen kommt – man probiert etwas, vergeigt es, berappelt sich allerdings wieder, weil man Eltern, einen Partner oder Freunde hat, die bspw. mit einer Finanzspritze, Unterschlupf oder anderer Unterstützung aushelfen könnten. Indem man allerdings erst Neues probiert, steigert man seine Chancen auf Erfolg und Zufriedenheit – ob beruflicher oder privater Natur. Es ergibt Sinn, dass sich bei dabei die Elite mit der Devise „Einfach machen!“ reproduziert – man hat ja eh nicht wirklich viel zu verlieren. Auch wenn das Geld verbrannt ist, muss man nicht am Hungertuch nagen oder um das Obdach fürchten – eine helfende Hand wird sich schon zeigen. Natürlich gibt es auch Bankrott-Geschichten, aber in Deutschland halten sich Mittel- und Oberschicht insgesamt relativ solide ab einer gewissen sozialen Schicht.
Was bedeutet das allerdings für Sozialsysteme und diejenigen Mitbürger, die nicht das Glück hatten, in ein Umfeld mit gewissem Standard geboren zu werden? Der Staat kann keine stabile Familie ersetzen, die moralische Unterstützung bietet, aber er kann Alternativen aufzeigen. Natürlich idealisiert man stets gern Erfolgsgeschichten von Leuten, die sich komplett allein von Null hochgearbeitet, aber die realen Zahlen zeigen vielmehr, dass sozialer und finanzieller Aufstieg für Geringverdiener am schwierigsten ist – das hat auch mit Entscheidungen zu tun, die man aus dem Kontext heraus trifft. Und selbst diejenigen, die mutig genug waren, um mehr zu wagen, hatten auf ihrem Weg Begleiter, Förderer und Mentoren. Es wäre vermessen zu glauben, dass jeder in Deutschland vollkommen frei von Zwängen des Umfeldes wäre, um erfolgreicher Unternehmer, Jetsetter oder ein kreatives Genie zu werden.
Wo die Grenze liegt, um Menschen genug Anreize für persönliche Weiterentwicklung zu geben, ohne sie durch Sanktionen daran zu hindern, ihr echtes Potenzial auszuschöpfen, muss immer wieder neu austariert werden. Gegenwärtig scheint eher eine Zuchtmeister-Stimmung den einkommensschwachen Menschen gegenüber zu herrschen – lieber zu streng sein, damit „sie“ (die vermeintlich so anders sind als „wir“) den Sozialstaat nicht ausnutzen, anstatt ihnen größere Sicherheit zu geben, um ihren persönlichen und beruflichen Horizont zu erweitern. Das ist misslich, vielleicht den Entscheidern und Politik und Wirtschaft schlicht nicht wichtig genug, da sie ihre Schäfchen sowieso im Trockenen haben und diese Vormachtstellung genießen.
„Natürlich idealisiert man stets gern Erfolgsgeschichten von Leuten, die sich komplett allein von Null hochgearbeitet, aber die realen Zahlen zeigen vielmehr, dass sozialer und finanzieller Aufstieg für Geringverdiener am schwierigsten ist …“ In der Klassengesellschaft hat der Begriff Leistung eben nichts mit Leistung zu tun, sondern mit Verwertung. Dieser Zusammenhang, der sich in kapitalistischen Ländern u.a. an den völlig absurden Gehaltsunterschieden ablesen lässt, die es ermöglichen, dass ein Fußball- oder Tennisspieler, der ein Spielgerät von A nach B befördern kann, zum Millionär wird, während eine Krankenschwester, die Leben rettet, es gerade einmal zur kreditfinanzierten Eigentumswohnung schafft – wenn sie Glück hat. Der oft zitierte Aufstieg ist einzig und allein durch die Ausnutzung anderer, in der Wirtschaft ausgeprägt durch die Abschöpfung der Arbeitsleistung, die nicht mit dem angemessenen Anteil an der Wertschöpfung vergütet wird, möglich.