2014 ist bereits das siebte (!) Jahr der europäischen Finanz- und Bankenkrise, allerdings wird dieses Jahr vielleicht auch ein Jahr der Veränderung. Die Europawahlen stehen an und zum ersten Mal gibt es keine Drei-Prozent-Hürde in Deutschland – eine Chance für europakritische und nationalistische Parteien. Marie Le Pens „Front National“ ist ein Frankreich auf dem besten Weg, die stärkste Partei zu werden, aber auch die NPD kann auf einen Sitz hoffen und Bernd Luckes „Alternative für Deutschland“ wird wahrscheinlich ins Europäische Parlament einziehen. Dies könnte die kommende Legislaturperiode unter Umständen erschweren, wenn sich die moderateren Parteien nicht zusammenschließen und destruktivem Gedankengut Paroli bieten.
Neu ist in diesem Jahr auch, dass die Europäischen Parteien zum ersten Mal Kandidaten vorgestellt haben, die als demokratisch gewählte Vertreter den Vorsitz der Europäischen Kommission übernehmen sollen. Neben Martin Schulz, der bis Juli rechtmäßig im Amt ist und wieder zum Kandidaten der Socialists & Democrats (Party of European Socialists, PES) auserkoren wurde, ist auch eine junge Deutsche Anwärterin für das Amt der Präsidentin des Europäischen Parlaments – Franziska „Ska“ Keller wurde in einem Online-Abstimmungsverfahren gemeinsam mit José Bové zur Spitzenkandidatin der Grünen Partei (The Greens/ European Free Allience, EFA) gewählt.
Ich hatte die Möglichkeit, in Brüssel bei dem Europäischen Gespräch teilzunehmen, das von diversen deutschen und europäischen gewerkschaftsnahen Stiftungen und Organisationen veranstaltet wurde. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus Deutschland und anderen Ländern wollten Antworten auf die Fragen hören, welche die Lebensrealität derer reflektieren, die durch ihre Arbeit die Wirtschaft aufrechthalten. Die jungen Mitglieder der Gewerkschaften stellten ihre Wünsche und Forderung an die Politik vor und zeigten Wut, Frustration, aber auch Hoffnung. Bei der Veranstaltung habe ich auch Franziska „Ska“ Keller und Martin Schulz erleben dürfen. Ska Keller macht mit ihrer natürlichen und freundlichen Ausstrahlung die Schwächen nahezu wett, die sich bei der Beantwortung von Fragen wahrscheinlich aus Mangel an Erfahrung zeigen. Zugegeben – die Veranstaltung wäre für viele Grüne schwieriges Terrain gewesen, allerdings konnte sie auch wegen ihrer sozialpolitischen Position punkten. Warum es allerdings noch nicht so weit ist, dass man nach einigen Jahren Krisensituation noch immer keine konkreten direkten sozialen Maßnahmen implementieren kann, die Rettung des Bankensektors allerdings von allen Parteien wenn nicht priorisiert, dann zumindest geduldig akzeptiert wurde, wusste sie auch nicht.
Der volksnahe Medienprofi fordert „mehr Europa“ – aber wie?
Martin Schulz ist auf der Bühne vollkommen in seinem Element. Er weiß, wie er sich welchem Publikum präsentieren sollte, er benutzt keine Floskeln aus dem europäischen Elfenbeinturm und wirkt authentisch, wenn er sich verständnisvoll und besorgt bezüglich der Bürgerbelange zeigt.
Sein Terminkalender ist zurzeit voll. So gelassen er vor dem Publikum wirken mag, so sehr muss er sich von Veranstaltung zu Veranstaltung hetzen. Verständlich, dass dabei tiefgreifende Auseinandersetzung und Vorbereitung zu kurz kommen können. Schulz redete davon, Europa für die Bürgerinnen und Bürger im Alltag sichtbarer zu machen, an die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zu erinnern, doch bietet kein Rezept an, wie dies gelingen soll. Das Subsidiaritätsprinzip im Bereich Arbeit und Soziales verstärke den Fokus auf den Nationalstaat, erklärte er. Eine Annahme, die für die vergangen Krisenjahre symptomatisch ist, allerdings auch Euroskeptikern eine perfekte Vorlage zum Angriff bietet. Die Floskel „mehr Europa“ muss öffentlich mit mehr Leben und Inhalt gefüllt werden – es gibt schließlich so viele Gründe und Beispiele jenseits der inzwischen abgedroschenen Punkte „Bewegungsfreiheit“ und „Friedenssicherung“, welche selbstverständlich zu den kostbarsten Errungenschaften der EU gehören, aber inzwischen besonders von der jungen Generation als Selbstverständlichkeit empfunden werden. Durch Social Media versucht man allerdings gerade die junge Generation zu locken, um die schwache Wahlbeteiligung von nur 42% bei der vergangenen Europawahl 2009 in diesem Jahr zu überbieten.
Vergessen ist, dass das umstrittene Anti-Piraterie-Abkommen ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) in der EU gestoppt wurde nachdem die Menschen in mehreren Ländern auf die Straße gegangen sind. Vergessen ist auch, dass in der EU besondere Lebensmittel- und Sicherheitsstandards sowie Rechter für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erkämpft wurden und dies auch schlussendlich dazu führen kann, dass die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP – Transatlantic Trade and Investment Partnership) nicht akzeptiert wird. Migration ist in der deutschen Politik ein salonfähiges Thema, ohne dass über dem Schlagwort „Armutsmigration“ reflektiert wird, dass es auch jährliche Auswanderung aus Deutschland (2008 waren es über 160.000 Personen) u.a. in die Schweiz, nach Österreich, Spanien oder die USA gibt. Im Angesicht des drohenden demografischen Wandels könnte eine erfolgreiche Inklusion eine Chance für Wirtschaft und Sozialsystem sein. Treffend sagte es kurz vor dem Europäischen Gespräch die EU-Abgeordnete Evelyne Gebhardt: „Für die guten Entwicklungen bedankt man sich beim eigenen Staat, für die schlechten Entwicklungen beschuldigt man Europa“.
Zusammenrücken statt Abgrenzen?
Während ich bei dem Europäischen Gespräch beobachtete, wie verblüffend ähnlich sich die Abgeordneten der PES und der Greens/EFA in ihren Positionen sein können, habe ich mich gefragt, warum man auf deutscher und europäischer Ebene nicht zusammenrückt, anstatt sich gegenseitig das Wasser abzugraben, wenn man sich eigentlich einig ist. Es gilt schließlich nicht nur, die Zeichen der Zeit (Euroskepsis und Populismus) zu erkennen, sondern sie auch richtig zu interpretieren und daraus kluge Schritte abzuleiten. Kooperation statt Konkurrenz könnten viel effektivere Ergebnisse bringen, anstatt künstliche Mauern aufzuziehen, welche die Wählerschaft nur verwirren und im schlimmsten Fall in die Arme derer treibt, die eine harte und deutliche Abgrenzung zeigen – jenseits der klassischen Parteien. Die Austeritätspolitik scheint erschreckend ineffektiv zu sein, die administrativen Strukturen wirken erschlagend komplex. „Mehr Europa“ kann vielleicht zu einer positiven Realität im Sinne der Bürgerinnen und Bürger werden, anstatt das Sinnbild für diejenigen zu sein, die ihren Status, ihren Wohlstand und ihr Wertesystem bedroht sehen. Ob der dafür nötige Dialog dafür zustande kommt, bleibt zu bezweifeln – das politische Geschäft sieht anders aus, inzwischen dürfte sich allerdings die Schockstarre langsam lösen. Zumindest ist dies wünschenswert.
Alle Infos zu der Konferenz gibt es hier
Photo: flickr.com; User: Parti Socialiste