Ich höre gerne zu. In Kneipen, in der U-Bahn, auf Partys. Ich finde es interessant, was Menschen zu sagen haben, weil ich mir dadurch erhoffe, die Gesellschaft besser zu verstehen. Die deutsche Gesellschaft – wenn es so etwas gibt. In den letzten Wochen habe ich genauer zugehört – Menschen aus der Politik, normalen Arbeitnehmern, manchmal auch einfach denjenigen, die hinter mir an der Supermarkkasse standen und noch nie zuvor war ich so verwirrt – noch nie habe ich das deutsche Gesicht so sehr verkannt und stattdessen eine verzerrte Fratze entdeckt.
Was ich damit meine? Unabhängig von Beruf, Bildung, Alter, Herkunft und Geschlecht – alle streiten über Flüchtlinge. Mich verwundert die Debatte ein wenig, wenn ich Konservative auf die Grünen schimpfen höre, dass ihre liberale Einstellung gegenüber Einwanderern eine Minderheitsmeinung sei, die sie als Mehrheitsmeinung propagieren würden. Wiederum höre ich Linke, die ein wenig herablassend auf das „bildungsferne Pack“ herabschauen und die Ängste und Schutzreaktionen mit mangelnder Erfahrung, gar mangelndem Intellekt, erklären. Dann höre ich CSU- und CDU-Politiker gegen die einzige Politikerin wettern, auf die die Union in den vergangenen Jahren konstant bauen konnte – die Bundeskanzlerin Merkel.
Mich verwundern diese Beschuldigungen und Diskussionen deswegen, weil der Umgang mit Menschen in unserem Grundgesetz verankert ist – Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist unumstößlich. Auch wenn ich den Pluralismus und die Freiheit in Deutschland schätze, ist dieser Grundsatz keine Streitfrage, sondern sollte die Verantwortung einer Gesellschaft betonen, die aus einer jahrzehntelangen Identitätssuche herausgewachsen ist. Paradoxerweise treten immer mehr Menschen ebendiesen Grundsatz mit Füßen, obwohl sie gerade Angst davor haben, dass der Rechtstaat durch Einwanderung geschwächt werden würde und Menschen aus anderen Kulturkreisen die deutschen Gesetze nicht respektieren.
Der Ton wird dabei immer schärfer: ich sehe Bilder von Pegida-Demonstranten, welche mit Galgen durch die Straßen Dresdens marschieren, die für die Kanzlerin und Vize-Kanzler Gabriel „reserviert“ seien. Auch ohne gezielt danach zu suchen, lese ich Hasskommentare gegen Politiker aus allen Parteien. Jeden Tag neue wutgetränkte Beleidigungen. Selbst wenn es tatsächlich um das Argument ginge, dass man die eigenen Gesetze verteidigen müsse, wundert es mich, ob eine Gesellschaft ein Grundgesetz verteidigen kann, an das sie sich selbst nicht hält. Es ist ironisch, wie einig man sich in Deutschland war, als während der Verhandlungen zur Lösung der europäischen Wirtschaftskrise nahezu drakonische Sanktionen beschlossen wurden, welche die betroffenen Menschen an den Rand der Existenz zwangen, doch wenn es um Menschenwürde geht, reißen tiefe Gräben auf. Vielleicht ist das aber auch nur die Quittung für die politische Kälte des vergangenen Jahrzehnts.
Es geht bei der zehrenden Diskussion um Flüchtlinge um viel mehr als politische Lösungen, wirtschaftliche Integrationsmodelle und effektive Bildungsmaßnahmen – es geht einmal wieder um die Identität und die Werte, die in diesem Land gelebt werden sollen. Flüchtlingsheime in Brand stecken ist gegen das Gesetz, genauso wie Volksverhetzung. Indem wir nicht einmal Respekt und Würde unseren Nachbarn gegenüber aufbringen können, höhlen die Deutschen aktiv ihre eigenen Bestimmungen aus. Wie inzwischen oft erwähnt, wird die aktuelle Lage Deutschlands Gesicht verändern, doch es werden die Deutschen sein, die dies in erster Linie tun und gerade bin ich mir nicht sicher, ob es eine Veränderung zum Guten sein wird.
Bis vor kurzer Zeit nahm ich – und auch die Weltgemeinschaft – Deutschland als Land wahr, das die Wichtigkeit von Respekt und Wertschätzung gelernt hatte, nachdem zur Zeit unserer Großeltern Menschen plötzlich ihre Nachbarn wegen ihrer Religion verachteten, und sich wenige Jahre später von ihren Familienangehörigen wegen einer Mauer entfremdeten. Ich dachte, man wäre sich einig, dass Verachtung niemals ein gutes Ergebnis herbeiführen kann. Offenbar irrte ich mich, deswegen wundere ich mich über vieles, aber leider nicht mehr über die Art, wie über Flüchtlinge gesprochen wird. Wenn man nicht einmal demjenigen mit Würde begegnen kann, den man unmittelbar kennt, wie kann die Hoffnung überleben, dass es bei Fremden so sein könnte? Die Identitätssuche geht weiter: Deutsche gegen Deutsche – bei einer Frage, die keinen Streit wert sein sollte.
Foto: Creative Commons, Sascha Kohlmann
Ich glaube ein großes Problem ist auch, dass Viele einfach nicht wissen, was warum getan wird. Man kommt den Flüchtlingen nicht nahe und lernt sie nicht kennen. Es wird, wieder einmal, nicht integriert. Da müsste man mehr tun, müssten die Verwaltungen etwas organisieren, einen Kennenlern Tag der offenen Tür oder ein Straßenfest. So etwas, aber die Menschen, auch Deutsche mit Deutschen, müssen sich wieder näher kommen. Und ich finde auch den Flüchtlingen sollte eine Aufgabe gegeben werden, ich kann mir nicht vorstellen das sie gerne den ganzen Tag in einem Flüchtlingsheim sitzen, auf irgendetwas unbestimmtes warten, von dem sie nicht wissen wann und ob und in welcher Form es kommt. Das sind einfach so Sachen die man besser machen könnte, anstatt alle Flüchtlinge wie einen Haufen in irgendein Lager zu stecken und zu warten was passiert.
Hallo Philipp und danke für deinen Kommentar!
Ich finde auch, dass man auf jeden Fall an dem Punkt des Näherkommens kommen muss – sowohl bei verhärteten Fronten zwischen Deutschen, als auch mit Flüchtlingen. Die Situation können wir schließlich kaum ändern – der Krieg in Syrien wird nicht so einfach zu beenden sein und dann sollte man sich erst recht an Artikel 1 GG halten und nicht vergessen, dass Menschen eben Menschen sind.
Das Problem scheint mir auf die Grundprogrammierung des Menschen zurück zu führen, die er seit Urzeiten mit sich schleppt: Alles, was von außen kommt, nimmt er als Bedrohung wahr.
Und obwohl er die Fähigkeit hat, sich gegen diese Programierung zu entscheiden, muss er daran arbeiten, sie zu „überstimmen“; denn sie ist mächtig.
Um dies zu bewerkstelligen braucht es Intelligenz (mehr möchte ich dazu nicht sagen).
Und insofern hat unsere Bundesmutti, die ich schätze, obwohl ich ihre Politik nicht mag, die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Sie spricht den Urinstinkt an, Menschen in Not zu helfen, hat dabei jedoch übersehen, dass es einen noch mächtigeren Urinstinkt gibt.
Insofern wird es darauf ankommen, dass der Chef des „Stammes“ namens „Gesellschaft“, es den Mitgliedern des Stammes ermöglicht, letztern überwinden zu können.
Hey! Vielen Dank für deinen Kommentar.
Ich verstehe das Argument, dass vieles als Instinkt „vorprogrammiert“ ist, aber in wie vielen Belangen haben wir es geschafft und einigermaßen davon zu befreien? Das klappt mehr oder minder bei Monogamie, die Geburtenraten sinken, obwohl der Reproduktionsinstikt wohl am stärksten ist und Einwanderungsgesellschaften haben ja auch bewiesen, dass ein Zusammenleben durchaus möglich ist. Es muss ja nicht immer krachen.
Ich stimme dir allerdings vollkommen zu, dass der Kurswechsel von Angela Merkel vielleicht zu krass war – die behütende Sicherheit, die sie Deutschland offenbar immer gegeben hat, ist nun verschwunden.
Hallo Alice,
ein schöner Artikel, obwohl er nichts beantwortet, sondern nur Fragen stellt. Das soll aber keine Kritik sein, denn genau das ist in meinen Augen der aktuelle „Zeitgeist“. Es gibt wohl keine einfachen Lösungen für ein so komplexes Problem, wie die Flüchtlingskrise.
Was Artikel 1 unseres Grundgesetzes angeht, habe ich oft das Gefühl, dass es in Deutschland längst nicht den Stellenwert hat wie in anderen Ländern, z.B. in den USA. Vielleicht hat es damit zu tun, dass das GG nicht Produkt einer hart erkämpften Selbstbestimmung war, sondern das Resultat einer Niederlage. Trotzdem sollte es die nicht verhandelbare Grundlage unseres Zusammenlebens sein. Leider scheint dies unserer Gesellschaft zu entgleiten. Was man dagegen tun kann… Hmm… weiß ich nicht. Sachlich bleiben ist vielleicht ein guter Anfang. Und rational. Vor allem auch dann, wenn es die Gegenseite in einem Diskurs nicht ist.
Hallo!
Danke für deinen Kommentar. Ich denke, am Anfang ist es wichtig, erst einmal eine Bestandsaufnahme zu machen und dann nach Lösungen zu suchen… Es ist in der Tat so komplex und so viele Interessen vermischen sich, dass man den Überblick verliert. Wichtig ist, wie man die Rationalität bewahren kann und auch unsere Kernwerte nicht aus den Augen verliert. Wie siehst du das?
Wichtig ist in meinen Augen, den Flüchtlingen jetzt zu helfen anstatt die Grenzen zu schließen. Ein Zaun hält einen solchen Ansturm ohnehin nicht lange auf. Davon abgesehen, dass es moralisch nicht in Ordnung wäre. Eine Bestandsaufnahme ist ebenso wichtig. Bei unseren Grundwerten habe ich das Gefühl, dass gerade da ein Riss durch die Gesellschaft geht. Wenn ich mir die Kommentare in den sozialen Netzwerken ansehe (ähnlich wie bei dir eher zufällig) dann finde ich, dass das, was unsere grundsätzlichen Werte seien sollten dort mit Füßen getreten werden. Ein zusätzlicher Punkt ist, dass die Debatte von den Asylgegnern zusätzlich emotionalisiert wird. „Für Flüchtlinge ist Geld da, aber nicht für kostenloses Schulessen.“ ist mein Lieblingsbeispiel. Obwohl das eine mit dem anderen nicht das Geringste zu tun hat, wird das tausendfach geteilt.