In einigen Tagen ist das Jahr 2018 Geschichte. Es war kein außergewöhnlich schlechtes Jahr für Politik und Gesellschaft. Mittlerweile ist man schließlich an Krisenmeldungen aus der Euro-Zone, Großbritannien oder den USA gewöhnt. Es war allerdings auch kein wirklich gutes Jahr – unter der Decke der sinkenden Arbeitslosenquote, dem Schuldenabbau und dem wachsenden BIP, brodelt es. Die Ereignisse in Chemnitz samt Gegendemonstrationen scheinen dabei nur ein Symptom dieses diffusen Brodelns zu sein.
Mir selbst fiel es in diesem Jahr zunehmend schwer, Mut für die politische Zukunft des Landes zu finden und dies niederzuschreiben. Das liegt daran, dass die Parameter der politischen Orientierung neu gesetzt werden. Dass das Links-Rechts-Schema aufgebrochen ist und nun die Liberal-Autoritäre-Achse den Diskurs zu dominieren scheint, ist hinlänglich diskutiert worden. Die Pole der Achse werden maßgeblich durch AfD und Grüne bestimmt. Was allerdings mit den Menschen passiert, die als passive Teilnehmer von dieser neuen Parameterverschiebung betroffen sind, ist weniger untersucht worden.
Ich muss gestehen, dass ich mich von dieser Veränderung auch betroffen fühle – vor allem in meinem Verständnis als Sozialdemokratin. Bin ich auf einmal konservativ, weil ich nicht alle liberalen Forderungen der Grünen mittrage? Oder bin ich utopisch links, weil ich noch immer an dem Thema der Arbeit hänge und mich interessiert, was mit Arbeitnehmern passiert? Die Zeit wird diese Neuorientierung beenden – hoffentlich.
Jenseits dieser persönlichen Eindrücke scheint es als wäre 2018 von politischen Trends gekennzeichnet gewesen. Diese spiegeln vor allem die Transformation wider. Das ist nicht nicht unbedingt angenehm – es ist wie in der Pubertät. Diese Trends haben den Ton der Debatten angegeben, den Fokus von Journalisten bestimmt, die Gedanken der Bürger beeinflusst:
- Wir stecken in der Vergangenheit fest
Wenn wir ganz ehrlich sind, dann bedienen sich alle Parteien gegenwärtig an geistigen und ideologischen Modellen aus der Vergangenheit, mit dem Unterschied, dass nicht die ökonomische Komponente dominiert, sondern die Geisteshaltung. Doch sowohl der Liberalismus, als auch der Konservatismus haben ihre gedanklichen Wurzeln in der Vergangenheit, die geistigen Väter und politischen Ikonen sind dabei längst tot.
Das ist insofern problematisch, dass wir mit alten Rezepten und Losungen versuchen auf neue Probleme zu reagieren. Selbst im liberalen Spektrum recycled man im Grunde alte Argumente und münzt sie noch präziser auf aktuelle Themen – bspw. der Identitätspolitik von Minderheiten. Der Fülle an Verschiebungen, Herausforderungen und Chancen durch geopolitische Konflikte, Migration oder technologische Innovation kann man mit Konzepten aus der Vergangenheit nie vollkommen gerecht werden. Man kann sie zwar auf eine Art und Weise beschreiben, die dem Denkmuster der Mehrheit entspricht, aber kaum neue Impulse geben, die so dringend nötig zu sein scheinen.
Die Welt wartet jedoch nicht darauf, dass Deutschland zukunftsgerichtet denkt. Dass die Grünen in diesem Jahr so gute Wahlergebnisse erzielt haben, liegt zu großen Teilen daran, dass das dynamische Team aus Annalena Baerbock und Robert Habeck, kommunikativ am stärksten auf die Zukunft gesetzt hat. Die Lösungen und Vorschläge, sind nicht neu, aber sie setzten einen klaren Akzent. Allerdings ist die Mehrheit der Bevölkerung nicht sehr progressiv, sondern in unterschiedlichen Abstufungen strukturkonservativ. Wenn es um Kultur, Wirtschaft und Alltag geht, hängen die meisten mal mehr, mal weniger an den Bildern, die sie aus Kindheit und Jugend kennen. Fortschritt schön und gut, aber bitte nicht zu viel und nicht zu schnell. Bevor man mit einer hastigen Bewertung dieses Umstandes beginnt, muss man diesen zunächst anerkennen.
Zusätzlich wirkt sich die Demografie auf den Fortschrittswillen Deutschlands aus. Alternde Gesellschaften sind weniger innovationsfreudig – ein wachsender Teil der Investoren und Entscheider ist nicht mehr im jungen Alter. Das Vertrauen in die „jungen Wilden“ und neuartige Technologien zu investieren, sinkt. Möglicherweise ist der Kulturunterschied zu groß. Die Reibung zwischen der Sehnsucht nach Vergangenheit und der Suche nach einer neuen Zukunft, ist dabei ein Symptom für die Veränderung.
- Wohlfeile Elitenkritik ist angesagt
In einer gesunden Demokratie ist Kritik gegen die Regierung und die Eliten ein wesentlicher Bestandteil der Debatte. Man möchte eine gute kritische Analyse oder journalistische Polemik nicht missen. Was in diesem Jahr allerdings zum Trend wurde, ist die Elitenrkritik – „die da oben“ ist ein gängiges Feindbild für Erklärungsmuster geworden. Das ist zum Teil richtig und notwendig. Bei den Google Trends der vergangenen fünf Jahre sieht man, dass im Juni 2016 (Brexit) und November 2016 (Trump-Wahl) der Suchbegriff „Eliten“ in die Höhe schoss. Es ist nur folgerichtig, dass sich viele kluge Köpfe nach diesen Ereignissen den Kopf darüber zerbrochen haben, was schiefgelaufen sein muss, dass solche politischen Erdbeben zustande kamen. Man kam auf den Schluss, dass die regierenden Eliten vieles falsch gemacht haben.
Dies ist zwar gerade in puncto Wirtschaft, Globalisierung und Infrastruktur häufig richtig, ignoriert aber – ganz elitär – dass hinter diesen Eliten auch Bürger standen, die Ideen mitgetragen haben. Die Agenda 2010 wurde genauso von SPD-Mitgliedern in ausreichend großen Teilen mitgetragen, wie die Grünen kein Elfenbeinturmprojekt sind, wenn hinter ihren Vorschlägen das Wählerpotenzial von einem Fünftel der Wahlberechtigten steht.
Zudem – und das ist der entscheidende Punkt – wird dezidierte Elitenkritik von einer anderen Elite vorgetragen, die ihre eigene Rolle jedoch nie als solche reflektieren würden. Ob sie von linker Seite von der promovierten Volkswirtin Sahra Wagenknecht vorgetragen wird, oder von rechter Seite von der wohlsituierten Alice Weidel herausposaunt wird – die Kritik suggeriert, als gäbe es eine dichte Verflechtung unter den bürgerlichen schichten, außer bei der regierenden Elite. Dass diese andere politische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Elite jedoch genauso abgekapselt ist von Problembezirken, sozialen Problemen und Zukunftsangst, fällt unter den Tisch. Dies ist für die gesamte Gesellschaft symptomatisch – es gibt immer weniger Begegnungsstätten zwischen sozialen Gruppen im öffentlichen Raum. Man bleibt unter sich – egal ob Öko-Familie oder hedonistische Vorstadthelden.
Das Problem bei der Elitenkritik ist daher, dass im Kern Elitengruppen, die sich gerade in ihrer Diskursmacht unterlegen fühlen, an der regierenden Elite Kritik üben. Das ist wenig überraschend. Bereits im 19. Jahrhundert hatte der italienische Sozialforscher Vilfredo Pareto untersucht, dass bei Systemumbrüchen lediglich eine Elite die andere abwechselte. Ja, viele Kräfte versuchen gerade das System zu fundamental zu verändern! Das ist ein normales Muster – leider scheint es genauso normal zu sein, dass die kritisierende Elite im Zuge dessen sich des falschen Musters von „wir gegen die da oben“ orientiert, obwohl die meisten von ihren selbst ganz gemütlich leben.
- Zynismus statt Zukunftsfreude
Aus den beiden oberen Punkten ergibt sich ein Strang, der dieses Jahr deutlich gekennzeichnet hat: miese Stimmung, bissige Kommentare, aggressive Onlinekommunikation – kurz: Zynismus. Besonders gut hat dies Julian Reichelt von der BILD-Zeitung vorgelebt.
Zynismus ist effektiv, vor allem, wenn er sich mit Angst paart. Diese Kombination aktiviert zu mehr negativen Emotionen wie Wut. Das zeugt nicht vorranging davon, dass alles schlecht ist (ich widerspreche jedem, der behauptet, Deutschland sei ein furchtbarer Ort zum Leben), sondern, dass wir keinen guten Problemlösungsstrategien mehr haben und resignieren. Ich befürchte, dass gerade auch junge Leute infolge eines Jahrzehnts von Lehman-Krisen, EU-Haushaltskrisen, Euroschirm-Krisen, Grexit-illusionen, Brexit-Abstimmungen und Trump-Tweets nicht mehr das Gefühl haben, dass das gegenwärtige System gut genug ist und Engagement und Arbeit sich nicht mehr lohnen.
Dass dieses Gefühl nicht einfach durchbrochen werden kann, ist klar. Ich frage deshalb an dieser Stelle: wer hat Ideen dafür wie man in der Breite wieder Zukunftsfreude verbreiten könnte?
Der Hoffnungsschimmer des Jahres: Franziska Giffey
Mein persönlicher politischer Hoffnungsschimmer in diesem Jahr war Franziska Giffey. Freundlich, bodenständig, arbeitsam – so hat sich die Bundesfamilienministerin in diesem Jahr gezeigt. Sie findet eine klare Sprache für ihre Arbeit (z.B. „Gute-Kita-Gesetz“), war als erstes Kabinettsmitglied in Chemnitz zur Stelle nach den Ausschreitungen und kann „die Sorgen der Bürger“ auf eine Weise artikulieren, die nicht nach Apokalypse und Panik klingt. Dies ist ein menschlicher, zugleich sachlicher Politikstil, den ich mir in Zeiten medialer Schnappatmung wünsche.
Was geholfen hat: Lesen!
Um in diesem gefühlten politischen Chaos Orientierung, Provokation und Inspiration zu finden, half mir in diesem Jahr nur eines: lesen, lesen, lesen – als Aufarbeitung der vergangenen Jahre. Im Kopf sind mir dabei folgende Werke hängen geblieben:
Guangyan Yin-Baron und Stefan Baron – Die Chinesen; Psychogramm einer Weltmacht. Detaillierte und breite Übersicht über Kultur, Geschichte, Wirtschaft, Politik, Ambitionen und Mentalität der Chinesen, das Versteht die Logik des Landes besser zu verstehen.
Francis Fukuyama – Identity. Eine Abhandlung mit der Frage ob Minderheiten- und Identitätspolitik die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.
Katja Gloger – Fremde Freunde. Detaillierte Analyse über das deutsch-russische Verhältnis.
David Goodhardt – The Road To Somewhere. Analytische Abhandlung über die Mentalitätsunterschiede zwischen den internationalen, globalen Schichten und der konservativen, ländlichen Gruppen in Großbritannien sowie über deren politischen Einfluss.
Jonathan Haidt – The Righteous Mind. Kognitiv-psychologische Analyse über den Ursprung und die Entwicklung von unterschiedlichen politischen Werten und Moralvorstellungen.
Nils Heisterhagen – Die liberale Illusion. Provokative, linke Thesen für einen „linken Realismus“ als Lösung für Deutschland und der Überwindung sozialer Ungleichheit.
Steven Pinker – Enlightenment Now! Eine angenehme Abwechslung, den Pinker ist optimistisch in puncto Vernunft, Fortschritt und Zukunftsoptimismus – selbst, wenn man nicht jedem Punkt zustimmt.
Was kommt: hoffentlich heitere Zeiten!
In diesem Sinne wünsche ich alles Gute für 2019 und eine besinnliche Weihnachtszeit! 2018 war vielleicht so anstrengend wie ein bockiger Teenager, aber früher oder später wachsen alle aus dieser Phase heraus!
Hallo Alice,
danke für Deinen Jahresrückblick mit den kritischen Analysen und Lektüren.
Die Betrachtung zeigt, dass die Suche eines Sündenbockes nicht ersetzt, über Politik nachzudenken, zu sprechen und zu schreiben. Es ist ebenso abwegig, Gerhard Schröder die „Schuld“ an Hartz IV anhängen zu wollen, wie Angela Merkel die alleinige Verantwortung für Migration und Flüchtlinge. Dies nervte mich im ausgehenden Jahr.
Die SPD kann mit der Gesetzgebung wesentlich bessere Ergebnisse verbuchen als an den Wahlurnen bei den letzten Landtagswahlen. Eine ältere Partei wie die SPD kennt schlechtere und bessere Zeiten. Und sie hat auch Parteien auf verschiedenen Seiten kommen und gehen sehen, seien es die Republikaner, die Schill-Partei oder die Piraten. Sowohl aus ihrer Geschichte wie aus den jungen Bewegungen und Kräften schöpft sie Kraft zur Erneuerung.
Manche mögen in der Vergangenheit fest stecken (Tilo Sarrazin?), nicht aber die SPD und ihre Umgebung. Bei der Eliten-Diskussion ist zu unterscheiden, welche Variante gemeint ist. Insofern ist der Verweis auf Paretos Eliten-Wechsel angebracht. Zukunftsfreude oder Zuversicht gibt es derzeit viel bei den Grünen, wie Du zurecht darstellst. Doch Apokalyptik und Zynismus – von wem auch immer – wird die SPD mit Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität beantworten.
Dazu trägt Deine Favoritin bei, wie viele andere in Europa, im Bund und den Ländern, Kommunen und Arbeitsgemeinschaften.
Gute Wünsche zu den Feiertagen und zum Jahreswechsel
mit heiteren Grüßen
Bernd