Die Europawahl Ende Mai rückt näher. Die Erwartungen an Deutschlands Führungsrolle werden insbesondere nach dem Austritt der Briten aus der Europäischen Union wachsen. Ohne das Vereinigte Königreich verschiebt sich das Machtgewicht in Europa weiter in Richtung Osten und der Westen muss eine europäische Lösung anbieten, die die Union zusammenhält.
Ost gegen West: niemals zusammengewachsen
Seit der ersten EU-Osterweiterung sind mittlerweile 15 Jahre vergangen. Die Hoffnungen waren sowohl in den westeuropäischen Kernstaaten als auch bei den östlichen Neumitgliedern groß. Wirtschaftlich sollten alle von dem größeren Binnenmarkt profitieren: im Osten sollten die Löhne sukzessiv durch mehr westliches Engagement steigen, für den Westen gab es genug Möglichkeiten Dienstleistungen günstig einzukaufen. Der Binnenmarkt war ein größeres Spielfeld, in dem jeder Staat seine Produkte anbieten konnte. Gerade im internationalen Wettbewerb sollte dieser Umstand den europäischen Mitgliedsstaaten Vorteile verschaffen und die eigenen Volkswirtschaften robuster machen.
Auch politisch und gesellschaftlich sollten sich die Blöcke aneinander annähern – beziehungsweise der Osten an den Westen. Eine Demokratie mit einer sozialen Marktwirtschaft, bei der durchaus die Feinjustierung nationalstaatlich bestimmt wird, galt als Norm. Gerade die über Jahrzehnte sozialistisch geprägten Gesellschaften Osteuropas sollten in dem Verbund robuster werden, um nicht in nostalgische Sehnsüchte zurückzufallen. 2004 waren erst 15 Jahre seit dem Zusammenbruch des Sozialismus vergangen, viele Menschen hatten den Großteil ihres Lebens in einem undemokratischen System verbracht. Die neuen Freiheiten der Wahl, des Justizsystems, der Meinungsäußerung, Güter- und Personenfreizügigkeit wurden zwar begrüßt, aber mit einem europäischen Regelwerk sollte es einfacher sein, sie zu stärken.
Vorgespult ins Jahr 2019: der Westen empört sich über Polen und Ungarn, manch einer sagt hinter vorgehaltener Hand, dass die beiden Länder die EU verlassen sollten. Die Einschnitte in die Freiheit des Justizsystems in Polen, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und von gesellschaftlichen Minderheiten in Ungarn sind Aspekte, die für den Westen nicht mit den Grundsätzen vereinbar waren. Dabei schien gerade Polen ein vielversprechender neuer Partner zu sein, der sich wirtschaftlich gut entwickelte. Was war passiert?
Man kann sich der Antwort mit folgenden Stichworten annähern: schlecht geplante wirtschaftliche Liberalisierung in den 1990-ern, Brain-Drain, demografische Krise, Nationalismus als Kulturgut.
Der Zusammenbruch des Sozialismus war für viele Osteuropäer zwar mit der Hoffnung verbunden, von einem repressiven politischen System befreit zu leben, aber auch mit sehr viel Unsicherheit. Der Kapitalismus hatte eine Logik, die sich mit nichts vergleichen ließ, was die Menschen zuvor gelernt hatten – außer, dass er dem sozialistischen Feindbild dient. Bei der Privatisierung und Liquidierung der Staatskonzerne im Osten griffen der Internationale Währungsfonds und westliche Investoren den Staaten massiv unter die Arme und versuchte ein System zu etablieren, dass eine liberale Marktwirtschaft ermöglichen sollte.
Viele Bürger hatten die Hoffnung, dass die Löhne und Lebensstandards sich an den Westen angleichen würden. Die Deutsche Mark und der US-Dollar waren die Symbole des erfolgreichen Kapitalismus – man dachte, dass es den Menschen im Westen gut geht, alle wohlhabend leben und man wollte dieses Modell ebenfalls erreichen. Ivan Krastev, bulgarischer Politologe, hat mit seinem US-Kollegen Stephen Holmes beschrieben, wie die osteuropäischen Staaten versucht haben den Westen zu imitieren, um das zu erhalten, wonach sie sich sehnten – Wohlstand und Sicherheit.
Man adaptierte das System und bemühte sich den Regeln des Marktes anzupassen, wenngleich diese kulturell vor allem in den ersten Jahren der Liberalisierung überhaupt nicht passten. Innerhalb kurzer Zeit wurden viele Menschen arbeitslos, die sozialen Sicherheiten, die ihnen der Sozialismus zuvor bescherte – allen voran kostenlose Kinderbetreuung und Zugang zum Gesundheitssystem – brachen zunächst weg. Die wirtschaftliche Schocktherapie, die einen schnellen Mentalitätswechsel zur kapitalistischen Logik bereiten sollte, traf besonders Polen und Tschechien hart. Man hatte unterschätzt, wie schwierig es war, Unternehmertum in einer Gesellschaft zu kultivieren, die zuvor von einer Planwirtschaft gelenkt wurde. Die Liberalisierung sollte die berühmte bittere Medizin sein, die dem Patienten eine Genesung bringen soll – in diesem Fall, dass der westliche Wohlstand erreicht wird.
Das Wohlstandsniveau des Westens haben die osteuropäischen Länder bisweilen nicht erreicht. Dies liegt unter anderem auch am massiven Brain-Drain der Länder. Viele junge, motivierte, gut ausgebildete Menschen packten ihre Sachen und zogen in den Westen, um zu studieren und zu arbeiten. Was auf individueller Ebene sinnvoll erschien, riss große Lücken in das volkswirtschaftliche Potenzial und die Zukunftsaussichten der Osteuropäer. Unter den Top-10 Ländern mit den am schnellsten schrumpfenden Bevölkerungen, liegen sieben in Osteuropa. Darunter auch Polen und Ungarn, deren Bevölkerung zwischen 2017 und 2050 um 15 Prozent schrumpfen soll.
Damit gehen zwei Herausforderungen einher: massiver wirtschaftlicher Druck und das Erstarken des Nationalismus. Das „Sklavengesetz“ des ungarischen Präsidenten Viktor Orbán, nach welchem Arbeitnehmer bis zu 400 Überstunden jährlich anhäufen können und auf deren Erstattung zum Teil mehrere Jahre warten müssten, reiht sich der Logik der demografischen Krise ein. Ungarns Bevölkerung ist seit 1990 bereits um fünf Prozent geschrumpft, Fachkräfte werden händeringend gesucht – die offizielle Arbeitslosenquote lag im Juli 2018 bei 3,7 Prozent.
Gleichzeitig ist durch diese demografische Entwicklung ein gewisser Nationalismus aufgeflammt. Historisch haben osteuropäische Länder ein positiveres Verständnis zum Patriotismus, als die Parteien der Weltkriege in Westeuropa. Patriotismus und ein gewisser Nationalstolz waren Bestandteile des Widerstandskampfes gegen den Sozialismus – einem ungewollten System der UdSSR. Das Ende des Sozialismus ist für viele Osteuropäer ein Gewinn der eigenen Identität über die Unterdrückung.
Befeuert wird dieser Patriotismus von der beschriebenen demografischen Krise. Bulgarien wird bis 2050 um nahezu ein Viertel geschrumpft sein. Diese Entwicklung weckte die Lebensgeister der Nationalisten, die mit Vorliebe Stimmung gegen die Roma machen, weil die Geburtenrate dieser Minderheit höher ist. Gleichzeitig richtet sich der Nationalismus fortfolgend gegen Ausländer. Die Befürchtung, dass das eigene Volk ausstirbt, ist eine reale Angst, die medial bewusst unterfüttert wird. Eine Anwerbung ausländischer Fachkräfte ist in diesem Klima also nicht möglich, weswegen Arbeitnehmer wie im Falle Ungarns länger arbeiten müssen.
Um in Krastevs Erklärungsansatz zu bleiben, lässt sich sagen, dass die Imitation des Westens nicht zum Erfolg geführt hat, sondern dazu, dass aus diesen Ländern Imitate des Westens wurden – die Qualität von Imitaten ist selten zufriedenstellend. Die Kluft zwischen Ost und West besteht weiterhin. Da die Osteuropäer gesehen haben, dass die Imitation nicht erfolgreich ist, haben sie sich wieder auf sich konzentriert. Dazu gehört auch die Rückbesinnung auf die eigene Kultur.
Ein neuer Plan zur europäischen Integration ist gefragt
Mit dem voraussichtlichen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, wächst der Anteil derer, die keine westliche Sozialisation durchlaufen haben. Manch einer spottet sowieso gerne, dass die Osteuropäer im Kern gar nicht „europäisch“ im Sinne der Aufklärung und des fairen Wettbewerbs seien, aber so oder so muss man mit dem neuen Kräfteverhältnis umgehen. Dazu gehört auch, einen europäischen Plan zu entwickeln, um die osteuropäischen Gesellschaften zu stabilisieren, bevor sie implodieren oder sich an neue außereuropäische Partner schmiegen.
Ein Beispiel dafür ist das 16+1-Programm, bei dem elf osteuropäische Mitgliedsstaaten gemeinsam mit fünf Nicht-EU-Balkanstaaten eine gemeinsame Dialogplattform mit China entwickelt haben. Diese 16 Staaten haben knapp über 100 Millionen Einwohner, für China ist solch ein Markt gewiss auch attraktiv. Für Osteuropa hingegen ist die Investitionsbereitschaft, vor allem im Bereich der Infrastruktur verlockend. Es waren beispielsweise chinesische Investoren, die die Zugverbindung zwischen Ungarn und Serbien modernisiert haben. Dass mit solchen Investitionen auch stets ein gewisser Einfluss einhergeht, versteht sich von selbst.
Mit Hinblick auf den Europawahlkampf und die kommenden fünf Jahre, wären Überlegungen interessant, die dem demografischen und volkswirtschaftlichen Druck trotzen könnten. Ein ganzheitlicher Plan zur Förderung von Forschungszentren jenseits der westeuropäischen Metropolen, die Zukunftstechnologien weiterentwickeln und Europas Wettbewerbsfähigkeit stärken, wäre ein interessantes Modell. Der Anteil der europäischen Patente im IT-Bereich nimmt sowieso stetig ab, die USA und China geben hingegen den Ton an.
Problematisch ist an solchen Ideen, dass es politischen Gestaltungswillen und Investitionen bedarf. Während nationalistische Spalter-Parteien wie der französische Front National vom Ende der EU träumen und der Haushalt einiger Staaten wie Italien und Griechenland keinen Spielraum für Investitionen zulässt, wird Deutschland die Verantwortung für die kommenden Jahre maßgeblich tragen müssen. Die Bundesrepublik hat vom europäischen Binnenmarkt und der Arbeitnehmerfreizügigkeit stark profitiert, die Wirtschaft ist (noch) stabil genug, um politische Kreativität walten zu lassen.
Die Europäische Union ist kein Wohlfühlprojekt, es reicht nicht sich in den sozialen Medien zur europäischen Vision zu bekennen. Wenn die EU langfristig überleben soll – was sie im Grunde tun muss, weil kein Land allein dem globalen Wettbewerb trotzdem kann –, sind langfristige Ideen notwendig. Ich denke häufig daran, wie 1951 – nur sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges – die früheren „Erbfeinde“ Frankreich und Deutschland auf einander zugingen, um mit der Montanunion den Grundstein für die EU zu legen. Es ging damals um Weitsicht, die Wohlstand, Sicherheit und Kooperation fördern sollte. Es ist wieder notwendig ein solches Verständnis füreinander zu entwickeln, um weitsichtig zu sein – nur, dass dieses Mal der Blick in Richtung Osten geht.
Grundsätzlich müssen wir, was wenigen gefällt, unseren Wohlstand mit Anderen teilen, sowohl innerhalb der EU wie auch außerhalb. Gerade weil wir so sehr von den Osterweiterunegen und dem Binnenmarkt profitiert haben, sehe ich uns da in einer Verantwortung.