Manche von euch kennen vielleicht den „Political Compass“ – ein Online-Tool, das die eigene politische Einstellung entlang der Skalen „links – rechts“ sowie „libertär – autoritär“ einordnet. Es geht in der horizontalen Skala um wirtschaftliche Freiheit und staatliche Eingriffe. Sehr links wäre demnach ein starker Sozialstaat mit Regulierungen, sehr rechts wäre eine entfesselte freie Marktwirtschaft nach libertärem Ideal. Die vertikale Achse befasst sich mit sozialen und gesellschaftlichen Normen – mehr Offenheit ist liberaler gewertet, mehr Repression ist autoritärer. Zwischen beiden Polen der jeweiligen Achsen gibt es natürlich ganz viele ideologische und praktische Schattierungen. Die Ergebnisse ergeben sich aus einem Fragebogen, den man zu unterschiedlichen Politik- und Gesellschaftsthemen ausfüllt. Ich habe den Test mehrfach in den vergangenen Jahren gemacht und mich in meinem Ergebnis tendenziell wiedererkannt:
Die Seite analysiert auch die Wahlprogramme und Aussagen von Politikern:
So sah die Bewertung der Wahlprogramme für die Bundestagswahl 2013 aus:
Nun stieß ich aber über den Blog von Till Westermayer auf die Bewertung des Political Compass der Wahlprogramme der deutschen Parteien für die Bundestagswahl 2017. Das Ergebnis könnte man zusammenfassen als „sind wir nicht alle ein bisschen AfD?“. Alle Parteien sind als autoritärer und rechter kategorisiert worden und zwar in einem Ausmaß, das ich nicht mehr nachvollziehen kann – auch DIE LINKE ist dieser Analyse nach rechter und autoritärer geworden. Sogar die FDP und die Grünen befinden sich im blauen Quadranten:
Das kann zwei Dinge bedeuten: entweder wurde die Bewertung sehr streng und verzerrend vorgenommen oder die Wirtschaftskrise und der Flüchtlingszuzug 2015 haben eine prägende Rolle gespielt. Ich finde jedoch zum einen nicht, dass die Wahlprogramme der Grünen, der FDP, aber auch der SPD dieses Bild hergeben (das CDU-Programm habe ich bisher nicht gelesen), zum anderen kenne ich genug Parteimitglieder und Sympathisanten aus allen Spektren, die nicht in den blauen Quadranten passen würden. International verglichen befinden sich auch in den USA und Großbritannien die Politikakteure, die den Ton angeben, im blauen Quadranten – zum Teil mit extremen Ausschlägen zu den Enden der Achsen. Ist der moderne Politikstil trotz identity politics and dem Vorwurf der AfD einer „links-grün versifften“ Meinungsmache tendenziell konservativ und stark marktliberal?
Till Westermayer hat bereits die Methodologie der Analyse ausführlich angezweifelt, allerdings besteht noch eine weitere Möglichkeit: normale Mitglieder sind von den entscheidenden Parteiebenen komplett abgekoppelt und erkennen sich selbst in den Wahlprogrammen nicht wieder. Momentan tendiere ich allerdings tatsächlich zur Einschätzung, dass die Analyse mit einem gewissen Bias durchgeführt wurde. Da ich mich allerdings auch irren kann, bitte ich euch, den Test zu machen (gibt es auf Deutsch) und mir das Ergebnis zu posten. Schreibt mir, ob ihr euch wiedererkennt in den Ergebnissen und – falls es kein Geheimnis ist – mit welchen Parteien ihr sympathisiert oder gar Mitglied seid. Ich bastel gerne ein Ergebnisdiagramm mit Statistik, wenn genug Leute mitmachen 😉
Kann ich tatsächlich noch nicht, finde ich aber sehr interessant.
Mein Ergebnis:
Economic Left/Right: -3.25
Social Libertarian/Authoritarian: -5.23
Also ziemlich weit links unten. Hat mich doch ein wenige überrascht, denn spontan hätte ich mich weiter rechts oben eingeordnet. Zwar sehr nahe der Mitte, aber zumindest nicht so deutlich im grünen, wie es jetzt scheint.
LG Lexa
Diese Bewegung nach rechts und oben zwischen 2013 und 2017 ist schon deutlich. Wie kann das sein?
Ich habe eine (etwas andere) Vermutung: die alte 2013er Einsortierung entspricht ja ziemlich genau dem, wie man sich so klassischerweise die Positionen unserer etablierten Parteien vorstellt: Die Linke und die Grünen links unten, CDU, CSU, AFD rechts oben, die SPD irgendwo mittendrin. So möchten die Parteien ja auch selbst wahrgenommen werden. Das sind die gelernten Plätze, die ja auch lange – zum Teil viele Jahrzehnte lang – Bestand hatten.
Ganz anders sieht es aber aus, wenn man die Parteien nach ihrem HANDELN bewertet: Wie stimmen sie in den wichtigen Fragen ab? Welche politischen Entscheidungen fällen oder behindern sie? Was bleibt von der Wahlkampfpropaganda noch übrig, wenn der laufende Politikbetrieb wieder angefangen hat? Was ist das tatsächliche Gesicht der Parteien? So ganz ohne weichgespülte Werbeslogans und stylisch-schönen Wahlplakatfotos?
In der zurückliegenden Legislaturperiode haben tatsächlich alle Parteien eine Bewegung nach rechts vollzogen. Bedingt durch die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse, Krisen und Enthüllungen hat besonders die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD mehrfach und nachhaltig gezeigt, für wen sie Politik betreiben: die großen Konzerne, Unternehmen und Banken. Beispiele? Das viel zu billige Freikaufen der Energiekonzerne für die Atommüll-Entsorgung, die billige und technisch unzureichende Software-Nachbesserung im Rahmen des Diesel-Skandals, die fehlende Kontrolle der Investment-Banken (Cum-Ex-Skandal) und der viel zu gnädige Umgang mit ihnen usw. usf. „Too big too fail“? Deutschlands Stärke (die Größe und die wirtschaftliche Potenz) ist Deutschlands Schwäche: systemisch träge, wenig innovativ und sehr konservativ. Eben rechts.
Alles nach der Maxime „Wasser predigen, Wein saufen“. Vor der Wahl mit Maske, danach ohne. Die 2013er-Grafik ist die Theorie, die 2017er-Grafik ist die Realität.
Eine gute Initiative – weniger der Political Compass selbst als die Diskussion darüber. Der Fragebogen enthält für mich zu viele weltanschauliche Fragen (wenn überhaupt: glauben Sie an Horoskope?) und zu wenige Fragen zu konkreten in Deutschland vertretenen Positionen (wenn überhaupt …). Europa ist ganz und gar ausgespart; nur mit diffusen Glaubenssätzen angesprochen das Thema Flucht und Zuwanderung. Man merkt dem Fragebogen schon den anglo-amerikanischen Einfluss an.
Ich bin erwartungsgemäß recht deutlich im grünen Quadranten gelandet – und ja, leider bestätigt die im Blog-Beitrag abgebildete Compass-Parteienanalyse für 2017 sehr deutlich, was ich schon vorher wusste: da ist keine Partei in meiner Nähe (bzw. umgekehrt).
Die Überlegungen von „em pe“ finde ich schon sehr bedenkenswert; auch die Diskussion um TTIP fand ich unbefriedigend. Und es gibt sicher noch mehr Beispiele. Aber nicht nur das „Nach der Wahl“ ist enttäuschend, sondern nach meinem Empfinden auch das „Vor der Wahl“ (= jetzt). Nach der Mehrheit zu schielen und Stimmungen auffangen zu wollen, statt klare Positionen und zukunftsfähige Programme zu entwickeln, das ist aus meiner Sicht nicht überzeugend. Und schon gar nicht mitreißend. Eher ermüdend.
Eure Initiative finde ich gut, weil sie hilft, sich über wichtige Grundüberzeugungen klar zu werden und zu prüfen, wo diese in unserer Parteienlandschaft vertreten werden. Weiter so !!