Nach einigen Wochen in Bulgarien fühlt es sich an, wie im heimlichen Hinterhof der Europäischen Union zu leben. In den vergangenen Wochen haben Proteste die Regierung gestürzt – doch der Effekt dieses Aufschreis wird voraussichtlich nur von kurzer Dauer sein. Während für die meisten westlichen Touristen das Land lediglich mit günstigen Spirituosen, Strandurlaub und billigen Arbeitskräften verbunden wird, spielen sich unter der Oberfläche selbst über fünf Jahre nach dem Beitritt in die EU frustrierende Szenen ab, die sich über alle Lebensbereiche erstrecken.
Schwierigkeiten in allen Bereichen
Dass Politik und Verwaltung über Jahre von Korruption durchtränkt waren, ist kein Geheimnis – man versucht offiziell dagegen vorzugehen, in Wahrheit kommen die Veränderungen aber viel zu langsam und das hat bittere Folgen: Sei es das marode Gesundheitswesen, die stiefmütterlich behandelte Bildungspolitik oder die niedrigen Sozialstandards – selbst wenn man an schlechtere Bedingungen gewöhnt ist, wirkt die gegenwärtige Situation erschöpfend und nervenaufreibend. Kein Wunder, dass endlich der Knoten platzte und die Menschen auf die Straße gingen und zu protestieren begannen. Waren es anfänglich wutgetriebene Demonstrationen gegen Kartell- und Monopolstrukturen im Zuge der Privatisierung, werden inzwischen verschiedene Aspekte beklagt und der Drang besteht, die politischen Parteien zur Rechenschaft zu ziehen. Ob nach den vorgezogenen Wahlen im Mai Besserung in Aussicht ist, bleibt fraglich. Zu sehr sind die Machtstrukturen versteift, zu schwierig ist der Aufstieg für die junge motivierte Generation, um sich gegen die alten Hasen zu behaupten.
Die Befürchtung, dass die Emigration sich noch weiter verstärkt, wird von der Ratlosigkeit der Politikerinnen und Politiker genährt. Besonders im Gesundheitssektor fehlt es an qualifizierten Kräften. Junge Ärzte wandern bevorzugt nach Deutschland aus, da man dort die bulgarischen medizinischen Abschlüsse anerkennt. Das Gehalt und die modernen Arbeitsbedingungen wirken natürlich verlockend. Im medizinischen Bereich fehlt es oft noch immer an wesentlichem Equipment.
Auch die Statistiken und Bilanzen zeigen nichts Gutes: In der Europäischen Union ist Bulgarien Schlusslicht der Pressefreiheit und im Korruptionsindex.
Soziale Themen finden Gehör
Während man sich in Deutschland über Gleichstellung streitet, sind in Bulgarien erst jetzt erste Strukturen des Feminismus zu erkennen – wenigstens ein kleiner Erfolg. Themen wie häusliche Gewalt, Belästigung am Arbeitsplatz, ungerechte Vergütung und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben werden inzwischen aufgeriffen und diskutiert. Einer Statistik zufolge hat jede Vierte Frau Erfahrungen mit häuslicher Gewalt, auch Erfahrungen mit Belästigung und Mobbing sind keine Seltenheit – der Dialog ist bitter nötig.
Nicht nur aus ethischer Sicht ist die Förderung von Frauen nötig, denn wenn das Land in Anbetracht der Flucht des qualifizierten Nachwuchses wirtschaftlich überleben will, müssen auch qualifizierte Frauen in Betriebe als gleichwertige Arbeitskräfte integriert werden, um wenigstens einige Kapazitäten zu decken.
Auch ökologische Themen werden in jüngster Zeit immer wichtiger: Die Entrüstung über die Ausbeutung ist vielerorts groß, besonders nachdem an den Küstengebieten und Bergregionen teilweise schleierhafte Beschlüsse über Bebauung zur Begünstigung des Tourismus gefällt wurden.
Die Hoffnungsträger sind die jungen entrüsteten Bürgerinnen und Bürger, die eine andere Denkart haben, andere Prioritäten und Ziele und das Land nicht verlassen wollen, sondern sich für die Veränderung einsetzen möchten.
Die Folgen der Misere
Problematisch wirken sich die Umstände auf die (politische) Kultur aus: Besonders junge Menschen flüchten sich in einen Hedonismus, der sie von den Sorgen des Alltags ablenkt. Statussymbole, das äußere Erscheinungsbild, Konsum und eine ausgiebige Feierkultur sind für viele wesentlich. Die Energie scheint nicht mehr vorhanden, um sich weiterzubilden, da die Möglichkeiten eh begrenzt sind oder keinen Erfolg versprechen.
Zu beklagen sind auch die Arbeitsbedingungen vieler Menschen. Bei einer geschätzten Armutsquote von 40% schuften Bulgarinnen und Bulgaren freiwillig, besonders wenn sie selbstständig sind und im Dienstleistungssektor arbeiten. Überstunden, keine Pausen, keine Urlaubsregelungen und erschwerter Zugang zu gerechten Arbeitsbedingungen sind für das wirtschaftliche Überleben leider in vielen Fällen unabdingbar, aber schädlich: während in Deutschland die durchschnittliche Lebenserwartung bei 80 Jahren liegt, ist sie in Bulgarien um fast 7 Jahre niedriger, Stress und Sorgen können neben der schlechteren Versorgung auch aus medizinischer Sicht zweifelsohne als Grund mit aufgeführt werden. Der Kummer ist besonders alten Menschen förmlich ins Gesicht geschrieben, in tiefe Falten ist die Haut gelegt, Mundwinkel und Augen sind von der inneren Last nach unten gezogen. Der WHO-Gesundheitsreport bestätigt die Annahme, dass im europäischen Vergleich der Gesundheitsstandard in Bulgarien merklich niedriger ist, als in westlichen EU-Staaten.
Traurige Bekanntheit hat das Land durch die verbreitete Prostitution erreicht. Da die Sozialhilfeleistungen derart niedrig sind, besteht für Frauen mit geringeren Qualifikationen, wenig praktischer Erfahrung oder ohne Unterstützung durch Familie der einzige Ausweg um ihr Überleben zu sichern darin, ihren Körper zu verkaufen.
Die Rolle der EU
Dass der europäische Gedanke langsam zu einem unsichtbaren Geist verkümmerte, ist keine Neuigkeit. Besonders im Zuge der Wirtschaftskrise, sind es doch gerade die ökonimischen Interessen, die Politik und das Miteinander zwischen den Staaten bestimmen. Ein kleines Land wie Bulgarien, das nicht über signifikante Bodenschätze verfügt, ist in der Prioritätenliste weit unten.
2007 war die Hoffnung groß, dass mit Hilfe von Regulierungen und Aufsicht, der richtige Weg aus der seit Jahren anhaltenden politischen und wirtschaftlichen Krise gefunden werden kann. Nur ein Jahr später brach die Wirtschaftskrise allerdings mit voller Wucht über ganz Europa ein und der Fokus veränderte sich.
Zwar war man sich in Sofia einig darüber, dass man sparen muss und die Bemühungen wurden international auch gelobt, allerdings wurde dabei vergessen, dass die Bevölkerung den Gürtel bereits so eng schnallen musste, dass das Sparpotenzial vollkommen ausgeschöpft war.
Wohlmöglich wäre der Balkanstaat in einer drastischeren Situation in Bezug auf Korruption und wirtschaftliche Indikatoren, wenn der Beitritt nie stattgefunden hätte, aber die Tatsache, dass weder Verständnis, noch Interesse von Seiten westeuropäischer Staaten besteht, ist für die Bevölkerung deprimierend. Ein Land als günstigen Produzenten und Gemüsemarkt zu betrachten, ist zwar aus ökonomischer Sicht nachvollziehbar, aber sozial mit keinem Wertesystem vereinbar. Das mangelnde Interesse zeigt sich auch in der marginalen Berichterstattung: dass es im Rahmen der landesweiten Proteste zu drei Fällen von Selbstverbrennung kam, fand in den großen Medien keinerlei Gehör.
Die unsensiblen Schelme aus britischer Seite und vom deutschen Innenminister Friedrich gegen die Armutseinwanderung, verschlechtern das diplomatische Verhältnis, mit dem gerade in Krisenzeiten vorsichtig umgegangen werden muss. Zweifelsohne ist Armutswanderung ein Problem, das die Sozialkassen belastet, aber dennoch ist die herablassende und überhebliche Umgangsform in dieser Art nicht gerechtfertigt.
Komplexes sozio-politisches Geflecht wirkt auf die Gesellschaft
Bulgarien hat wie alle nahezu alle Balkanstaaten mit der Herausforderung zu kämpfen, dass auf relativ kleinem Territorium viele unterschiedliche Ethnien und Kulturen zusammentreffen und durch die Massenauswanderungen wird sich der Konflikt verschärfen. Die Position und Integration der Roma könnte in Zukunft an Wichtigkeit gewinnen, da ihr Anteil in der Bevölkerung signifikant zunehmen wird, auch wenn sie bis dato als Bürger zweiter Klasse betrachtet werden und ihnen der Zugang zum gesellschaftlichen Diskurs, Beschäftigung und Qualifikation erschwert wird. Bezüglich nationalistischer Strömungen von Seiten der Bulgarinnen und Bulgaren, aber auch von Seiten bulgarischer Türkinnen und Türken, die inzwischen aus dem politischen Diskurs kaum wegzudenken sind, kann man mit intensiven Spannungen rechnen.
Dafür dass die türkische Minderheit in sozialistischen Zeiten nahezu als Racheakt für die 500-jährige osmanische Herrschaft auf menschenunwürdige Weise behandelt wurde, erhält man nun die Quittung – zum ersten Mal gibt es mit der Gründung der Nationalpartei für Freiheit und Gerechtigkeit extreme Strömungen aus dem islamischen Bereich.
Wo ich gerade bei Sozialismus war – wie ein Geschwür, das man ignorieren will, halten sich Gewohnheit und Erinnerung an das alte System. Zwar hat die junge Generation das Gefühl für diese Ideologie verloren, aber da in Politik, Wirtschaft und Verwaltung die alten Hasen das Sagen haben, versuchen sie den Nachwuchs unter Einfluss der alten Doktrin zu rektrutieren – dies gilt zumindest für den bedeutenden Teil der Bevölkerung, der dieser Denkart nach dem Paradigmenwechsel nicht komplett den Rücken gekehrt hat. Dass aus marktwirtschaftlicher Sicht neoliberale Strukturen an Bedeutung gewonnen haben, vervollständigen das Paradoxon des Landes.
Auf diese Weise verschwimmen unterschiedliche Aspekte zu einem undurchdringlichen Geflecht, das soziale, politische und ökonimische Probleme erschafft. Lediglich eine Frage bei der Problembeseitigung bleibt: Wo soll man nur anfangen?
Foto: George Chelebiev; Proteste mit Bannern mit der Aufschrift: „Nieder mit den Parteien – der Bevölkerung eine Stimme“