Bulgariens Kampf europäisch zu werden

Endlich in Sofia angekommen, endlich wieder in Bulgarien.

Was tue ich also in einem Land, das zwar seit 2007 in der Europäischen Union Mitglied ist, aber von dem die meisten lediglich Anekdoten erzählen können, wie sie sich an einem Urlaubsort hemmungslos und günstig betrunken haben? Arbeiten. Im Auslandsbüro einer namenhaften deutschen politischen Stiftung, um genauer zu sein. Und nebenher hoffentlich eine gute Zeit verbringen und endlich meinen Geburtsort richtig kennenlernen.

Wirtschaftliche Engpässe und Koexistenz von Extremen

Man braucht es nicht schön zu reden – hier läuft eine Menge schief: noch immer gibt es viel zu viel Korruption, das Lohnniveau ist zu niedrig, die Wirtschaft kommt zu langsam in Schwung, andererseits gibt es viele sehr reiche Leute.

Auf der Seite des Auswärtigen Amts kann man folgende Passagen über die Wirtschaftslage lesen: „Bulgarien hatte von 1998 an über elf Jahre lang sehr ansehnliche jährliche Wachstumsraten von rund 5,4 Prozent im Durchschnitt. Vom weltweiten Konjunktureinbruch im Jahr 2009 blieb allerdings auch Bulgarien nicht verschont (BIP – 5,5 Prozent). Das Land schaffte aber bereits 2010 die Wende (+0.4 Prozent). Für das Jahr 2011 wird vom Statistischen Zentralamt ein Wachstum von 1,7 Prozent angegeben und auch für 2012 und 2013 rechnet man mit Wachstum von je rund 1 Prozent (Regierung 1,2 Prozent, IWF mit 0,8 Prozent (Prognose vom Oktober 2012). Das Bruttoinlandsprodukt beträgt 38,5 Milliarden Euro (1,5 Prozent des deutschen BIP (Quelle: Eurostat).

Im Gegensatz zu den meisten Staaten Europas kann Bulgarien solide Staatsfinanzen vorweisen. Das Budgetdefizit wurde durch eine konsequente Austeritätspolitik innerhalb von drei Jahren halbiert und auf 2,1 Prozent des BIP gesenkt – mit weiter rückläufiger Tendenz (0,1 Prozent des BIP Jan-Okt 2012). Die Staatsverschuldung lag zum Jahresende 2011 bei 6,6 Mrd. Euro, rund 17 Prozent, zeigt aber von Jan-Sep 2012 eine steigende Tendenz auf rund 19 Prozent des BIP.“

mallofsofiaUm mich davon zu überzeugen, wie weit der Kapitalismus in dem ehemals sozialistischen Land fortgeschritten ist, ging ich in eine der zahlreichen Malls. Wie erwartet kann man dort unglaublich viel Zeit mit Shoppen und Essen verbringen – Geschäfte und Restaurantketten aus aller Welt füllen die gut besuchte Mall. Wie die Leute sich diesen Konsum erlauben, kann ich mir noch nicht selbst erklären, aber das kommt bestimmt mit der Zeit.

Auch in der Innenstadt kann man sich das Stadtbild nicht mehr ohne westliche Supermärkte und Imbissbuden vorstellen – ich befürchte eine baldige Verfettung meiner Landsleute, weil immer noch der Irrglaube weit verbreitet ist, dass alles was aus dem Ausland kommt, besser sei als die heimischen Produkte – und das nach über 20 Jahren nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems, als die Annahme tatsächlich zum Teil stimmte. Auch auf dem Boulevard Vitosha schließen teure Geschäfte nahtlos aneinander an – Markenkleidung von Versace und Gucci findet man recht schnell.

Zugleich gehören auch die Bettlerinnen und Bettler, davon sind auffällig viele Menschen im hohen Alter, genauso zum Stadtbild, oft spielen sie Muiskinstrumente oder suchen in den großen Mülltonnen nach Plastikflaschen, für die sie Pfand erhalten können. Armut ist verbreitet, auch unter der arbeitenden Bevölkerung, die mit einem durchschnittlichen Gehalt von 400 Euro zurecht kommen muss, die Preise für Strom, Gas, Lebensmittel und Kosmetika teilweise höher liegen als in Deutschland. Viele Neureiche „übersehen“ diesen Zustand in Sofia – es lässt sich in dieser Stadt mit den unzähligen Geschäften, Bars, Clubs, Kinos und Restaurants sehr gut leben, wenn das Kleingeld stimmt.

Gespaltene destruktive nationale Identität

Sie ärgern mich immer wieder – die Bulgarinnen und Bulgaren, die fatalistisch und pessimistisch auf das eigene Land und die Landsleute schauen, natürlich ohne dabei zu vergessen, auf Politik, Justiz und Verwaltungswesen (welche zugegebenermaßen nicht stets am Gemeinwohl orientiert sind) zu schimpfen. „Der Bulgare an sich“ hätte seine Tugenden verloren, besäße ein Doppelmoral und sei von der finanziellen Situation von zwei Jahrzehnten so gepeinigt, dass ihm nichts anderes übrig bliebe, als in andere Länder zu emigrieren oder seine Güte zurückzulassen. Vor allem bei den älteren Menschen taucht oft die Sehnsucht nach den sozialistischen Zeiten auf, die Nostalgie nach der Ordnung und der geringen (gefühlten) sozialen Ungerechtigkeit schmerzt.
Andererseits verlassen vielen Menschen dieses Land nicht gern, es bleibt die Heimat, ein Ort, an dem man sich über Kleinigkeiten im Alltag erfreut und die Zeit mit dem Liebsten am kostbarsten ist. Die Denkart, dass alles schlecht sei im eigenen Land und überall anderswo besser, zieht Bürger und Politik runter, begünstigt Korruption und das Ausnutzen der Menschen, denen es schlecht geht – es bringt in keinerlei Hinsicht Verbesserung.

Maskiertes Denkmal für die Rote Armee in Sofia
Maskiertes Denkmal für die Rote Armee in Sofia im Zuge der Pussy-Riot-Proteste

Eine neue junge Generation bringt ein klein wenig Hoffnung: Sie haben das Ende des Sozialismus nicht mehr miterlebt und sind im Angesicht von Korruption, Mafia-Morden und Bestechung herangewachsen. Auch sie beschweren sich über den schlechten sozialen Standard, aber im Gegensatz zu der erschöpften Generation ihrer Eltern handeln sie, denn das Land liegt ihnen am Herzen. Es wird als bedeutender Erfolg verbucht, dass sich Bürgerbewegungen geformt haben. Mit neuem ökologischen Bewusstsein versammelten sich mehrere Tausend junge Menschen im Januar 2012, um gegen geplante Fracking-Maßnahmen zu protestieren und im Folgemonat Februar gab es große Demonstrationen gegen das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA, das umstittene Abkommen zur Bekämpfung von Produktpiraterie). Erstaunlicherweise haben diese Aktionen gefruchtet: Als zweites Land in der EU nach Frankreich wurden Fracking-Maßnahmen in Bulgarien von der Regierung untersagt und auch die ACTA-Ratifizierung wurde gestoppt.

Wie auch in anderen Ländern wurde gegen das Urteil der Sängerinnen der Punkgruppe „Pussy Riot“ protestiert – vielleicht ein Aufschrei für mehr freie Meinungsäußerung im eigenen Land, denn nach dem neusten Ranking der „Reporter ohne Grenzen“ befindet sich Bulgarien auf Platz 87 der Liste für Pressefreiheit – ein niederschmetterndes und beschämendes Resultat für einen EU-Staat.

Erschöpft, aber menschlich

Schwer vorstellbar, dass in dem ganzen Chaos Menschlichkeit noch ihren Platz findet. Aus meinen persönlichen Erfahrungen kann ich aber sagen, dass sie doch vorhanden ist, vor allem wenn es um den Umgang mit Kindern und den Wert der Familie betrifft. ADHS ist hier fremd, Kinder sollen toben und laut sein, dafür sind sie Kinder, anstatt mit Ritalin vollgestopft zu werden und wenn sie von der Schule oder aus dem Kinder abgeholt werden, haben die Kollegen und der Chef Verständnis dafür, wenn man früher Feierabend macht oder die Kinder manchmal vorbeischauen.

Es gibt sie, die offenen und sehr herzlichen Menschen, die viel mehr miteinander reden und sich auch gerne streiten, statt sich anzuschweigen.
Es sind die Momente, in denen man beobachten kann, wie alte Männer auf den Straßen darüber diskutieren, ob sie für ihre Kutschen samt Esel Parkgebühren zahlen müssen, oder wenn Verkäufer einen Preiserlass geben, weil der Kunde sie daran erinnert, dass die Summe der Einkäufe eigentlich höher war.
Die Menschen sind müde und haben die politischen und privaten Skandäle in Folge der wirtschaftlichen Lage des Landes satt, aber glücklicherweise geben nur die wenigsten auf.

Cover photo: flickr.com; User: Dennis Jarvis

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